16.09.2014

Neues vom Bösen Wolf

Böse Wölfe sind auch nachts aktiv. Man weiß es nie so genau, wann und wo sie ihr Unwesen treiben. Er könnte bereits hinter der nächsten Ecke lauern, der Böse Wolf. Seid auf der Hut, haltet eure Nasen immer schön in den Wind, dann könnt ihr seinen Atem rechtzeitig riechen und euch auf die andere Straßenseite verdrücken, um ihm nicht begegnen zu müssen.

Aber in der heutigen Nacht, da ist der Böse Wolf gar nicht auf die Straße gegangen. Er hat es sich zu Hause gemütlich gemacht. Bei einem Fläschchen „Technikerblut“, Jahrgang 1960, Weingut Perpetuum & Mobile. Ein prima Tropfen!

Musik läuft im Hintergrund – „Spiel mir das Lied vom Tod“. Der Böse Wolf liebt Ennio Morricone.

Gemütlich ist's in seiner Leseecke. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Spiegel. Man kann darin das Buch erkennen, das er in den Pfoten hält. Es ist ein Geschichtsbuch.

Geschichtsbücher beschäftigen sich immer mit der Vergangenheit, mit dem was war.

Aber der Böse Wolf, dem ist heute nicht nach Vergangenheit, der will in die Zukunft blicken. Und so blickt er verträumt in diesen Spiegel und sieht dort das Buch mit den seitenverkehrt erscheinenden Buchstaben und es verschwimmt alles ein wenig vor seinen Augen und er meint die Sätze rückwärts lesen zu können, und er beginnt im Spiegel zu lesen. Holprig ist das, ungewohnt selbst für den Bösen Wolf, aber vor seinem müde werdenden Auge (das „Technikerblut“ wirkt langsam) beginnt die Geschichte rückwärts abzulaufen.

Und da eine Vergangenheit, die rückwärts abläuft, zu einer Zukunft wird, die vorwärts läuft, sieht er langsam die verschwommenen Bilder einer aufdämmernden Zukunft vor sich auftauchen. Bild um Bild erscheint vor seinem trägen Auge.

Seine eigene Geschichte beginnt mit den Bildern zu verschmelzen und langsam werden die Bilder klarer, beginnt wie ein blutroter Faden ein Film zu laufen ...

Geldscheine sind zu sehen. Dunkle Männer zählen Geld. Sie stehen und sitzen um einen großen Tisch herum, eine Flasche guter Whisky steht in der Mitte, Euro-Zeichen flackern in ihren Augen. Einer der Männer ist ein Schrotthändler. Er reibt sich seine Hände. Ein seitenlanger Bestellbogen liegt vor ihm. Viele Lieferungen wertlosen Schrotts für viel Geld ... ein paar Zahnräder, ein etliche Meter hoher Wasserbehälter, Plastikrohre mit Löchern an der Seite, ein paar elektrische Bauteile.

In einer Ecke des Raumes stehen zwei Männer vor einem großen, sich drehenden Globus. Einer der Männer schließt seine Augen, wartet ein Weilchen und tippt dann plötzlich mit dem Finger auf die sich immer noch langsam drehende Weltkugel. „Russland!“ ruft der andere. „Prima!“ sagt der, dessen Finger immer noch auf der jetzt stehen gebliebenen Kugel ruht. „Ein großes Land!“

Ein anderer tritt zu den beiden hinzu und sagt: „Gut, ich sag meinem Grafiker, er soll morgen ein Logo für eine russische Firma machen! Und einen passenden Namen soll er sich auch gleich überlegen. Bei den Österreichern haben wir prima abgestaubt, jetzt nehmen wir die Russen aus!“

Der Böse Wolf seufzt auf und grinst genüsslich vor sich hin.

Düstere Wolken, gewitterschwer. Ein markanter Berg an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland – der Untersberg, sagenumwoben. Unweit davon ein kleiner Ort.

Einige hundert Leute stehen auf der Straße, Plakate schwenkend, wütend, schreiend. Rechtsanwälte und Richter in schwarzen Roben. Neugieriges Publikum, sensationslüstern.

Presseausweise werden gezückt. Interviews werden geführt.

Aus einer der immer schwärzer werdenden Wolken über dem Untersberg beginnt es zu blitzen. Donnergrollen ist zu hören. Weltuntergangsstimmung.

Der Böse Wolf räkelt sich, er liebt Filme wie „Der Clou“. Darin geht es um Trickbetrüger.

Es beginnt Abend zu werden. Das Gewitter verzieht sich, einzelne schwere Tropfen fallen noch, dann wird es still.

Die Anwälte sind nach Hause gegangen, die Richter auf Urlaub, die Journalisten wenden sich wieder der Champions League zu.

An den Stammtischen erzählt man sich noch länger von Leuten, die bei sich zu Hause ein großes Loch in die Decke ihres Gästezimmers gestemmt hatten und jetzt dort einen Wasserbehälter stehen haben, der bis an die Decke des darüberliegenden Raumes reicht. Für diese Geschichten gibt es immer noch eine Garantie, dass die ganze Tischrunde sich auf die Schenkel klopft.

Der Böse Wolf ist jetzt müde geworden. Er legt das Geschichtsbuch zur Seite. „Besser als Fernsehen!“, denkt er und legt sich schlafen.


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